Selbst in einer zunehmend vernetzten Welt fühlen sich Menschen isoliert, einsam und distanziert. Dieses Gefühl fehlender Verbunden- und Betroffenheit haben wir sicher alle einmal kennengelernt. Verwandelt es sich in einen fortwährenden Dauerzustand, der in verschiedensten Sphären unseres Lebens vorkommt, so sprechen viele von Entfremdung. Ganz intuitiv wirkt dieser Begriff klar und wir können uns sofort etwas darunter vorstellen. Doch versucht die Wissenschaft, sich ihm zu widmen, ihn zu beschreiben und zu definieren, fällt Einigkeit schwer. Denn was ist eigentlich das Gegenstück? In diesem Artikel werfen wir einen genauen Blick auf Entfremdung und wo sie uns im Alltag begegnet.
Wenn Entfremdung zum Problem wird
Der Zustand von Entfremdung äußert sich bei Betroffenen beispielsweise als ein Empfinden von Beziehungslosigkeit. Hierbei können verschiedene Bezugspunkte gemeint sein, darunter die Entfremdung gegenüber dem Selbst oder des eigenen Körpers. Auch engste Freunde und Familie können sich plötzlich distanziert und ganz unnahbar anfühlen. Dieser Zustand wird häufig mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen in Zusammenhang gebracht.
Die Wissenschaftlerin Lisbeth Jerich erklärt mit Entfremdung auch zu behandelnde und ernstzunehmende Burnout Symptome. So sieht sie eine Ursache für Burnout nicht zwangsläufig in einer zu großen Menge an Arbeit, sondern ebenfalls in einer veränderten, bezugslosen Beziehung zur Arbeit. Entfremdung gegenüber der eigenen Arbeit kann nach ihr entstehen, wenn die Arbeit rein Mittel zum Zweck ist, das Geldverdienen in den Vordergrund rückt und die Arbeit keine Selbstverwirklichung erlaubt.
Alltägliche Entfremdung
Doch Entfremdung muss sich nicht nur in ihren Extremen und als Symptom psychischer Krankheiten äußern. Folgt man den Überlegungen des Soziologen Pierre Bourdieus, so entsteht Entfremdung im Alltag oft dann, wenn wir uns fehl am Platz fühlen – wenn in seinen Worten “Habitus” und “Feld” nicht übereinstimmen. Unser Habitus ist dabei ein Sammelsurium – eine Art Lebensstil – an allen Erfahrungen, Gewohnheiten, Einstellungen und Wertvorstellungen, die wir in unserem Leben gesammelt und erlernt haben. Das Feld ist vereinfacht gesagt unser Umfeld und unsere jeweilige spezifische Umgebung, in der wir uns befinden.
Am leichtesten lässt sich alltägliche Entfremdung mit Beispielen illustrieren. Der “einfache Arbeiter” erfährt beispielsweise Entfremdung, wenn er ein gehobenes Opernhaus betritt und das Gefühl bekommt, dort nicht reinzupassen. Die “Akademikerin aus gutem Hause” empfindet womöglich Ähnliches, wenn sie die Stammkneipe eines ländlichen Dorfes besucht.
Das Gegenstück zur Entfremdung
Was Entfremdung gerade in der Wissenschaft begrifflich herausfordernd macht, ist die Schwierigkeit, einen Zustand der Nicht-Entfremdung zu definieren. Kurz gesagt: Wie nennen wir das, wenn wir uns nicht entfremdet fühlen? Was ist der positive Gegenpart? Ein Vorschlag nennt hierbei Autonomie – also Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Doch ist es durchaus denkbar, dass Entfremdung auch mit entsprechender Kontrolle erlebt wird. Zum Beispiel, wenn uns dadurch Struktur fehlt und wir gar nicht wissen, wohin mit uns. Andererseits ist Autonomie keine Voraussetzung für Nicht-Entfremdung. Wenn wir uns beispielsweise Hals über Kopf verlieben oder die Schönheit einer Landschaft uns überwältigt, haben wir diese Empfindungen nicht kontrolliert hervorgerufen und doch sind wir weit weg von Entfremdung.
Ein weiteres Gegenkonzept zu Entfremdung stammt von Hartmut Rosa. Da Entfremdung eine gewisse Beziehungslosigkeit meint, so muss das Gegenstück entsprechend eine “gelungene” Beziehung sein. Er bezeichnet sie als “Resonanz”, die sich in einfacher Kürze als eine Art der “berührenden” Antwortbeziehung zwischen Mensch und Umfeld beschreiben lässt.